Draußen kalt und verschneit, drinnen warm dank des knisternden Feuers im Kaminzimmer. Das war die heimelige Kulisse, vor der Everhard Drees auf Einladung des Fördervereins Mettinger Schultenhof aus dem Buch „Appelbaumchausse“ des westfälischen Schriftstellers Norbert Johannimloh las. Drees hatte den Autor, der im vergangenen Jahr im Alter von 92 Jahren starb, persönlich kennengelernt. Er lud die rund 30 Frauen und Männer, die sich um den Lesetisch scharten, dazu ein, mit ihm gemeinsam in dessen autofiktionale Erinnerungen einzutauchen und sich vom Klang der Sprache einfangen zu lassen.
Es waren Geschichten, in denen der Ich-Erzähler aus dem Blickwinkel eines Kindes respektive Jugendlichen vom schweren Leben auf dem Land zwischen Elternhaus und Kuhstall, Schule, Kirche und Krieg erzählt. Das ist oft zum Schmunzeln, manchmal zum Weinen, aber immer genau beobachtet und detailliert beschrieben. Ob Johannimloh von seiner Beziehung zum Vater schreibt („Glaubst du, ich hätte ihn fragen können? Klönen konnte man mit Papa erst, als er schon Opa war“), das Aufwachsen in der Großfamilie mit insgesamt zehn Kindern, oder den Schulalltag, in dem nicht der Zeige‑, sondern der Schlagstock „das wichtigste Ding“ und „ständig griffbereit“ gewesen ist („Nicht selten traf es Schuld- und Ahnungslose“) — inhaltlich und sprachlich präzise lässt er das Leben auf dem Lande Revue passieren und nimmt das Publikum mit seiner Erzählweise gefangen. Immer wieder nickt jemand aus der Runde im Kaminzimmer zustimmend, erinnert sich an eigene Familiengeschichten, in denen es ähnlich zugegangen sein mag.
Everhard Drees gibt mit der Auswahl der gelesenen Passagen einen facettenreichen Einblick in Johannimlohs Leben. Von der sterbenden Kuh ist die Rede, der der Vater mit dem Brotmesser gerade rechtzeitig den Hals durchgeschnitten hat, damit sie als Schlachtvieh verkauft werden konnte, aber auch von Doktorspielen auf dem Strohboden. „Als Doktor durfte ich alles machen, auch das, was der liebe Gott und der Herr Pastor verboten hatten“, erzählt Norbert Johannimloh in seinem Roman „Appelbaumchaussee“ und macht mehr als deutlich, dass es ihm Spaß machte, „den großen Helmut so in Verlegenheit zu bringen“. Die erste Enttäuschung von den Halbkugeln unter dem Pulli der Irmgard bei der Untersuchung ihres Herzens beschreibt er ebenso minutiös wie den todesmutigen Einsatz beim Balancieren auf dem Geländer der Autobahnbrücke, um Hildegards Aufmerksamkeit zu bekommen, oder den gescheiterten Plan, Annegret zu erobern. Dass manche „Mädchengeschichten“ in der Heiligen Messe ihren Anfang nahmen, versteht sich auf dem Lande, wenn die Angebetete drei Kilometer entfernt in der Bauerschaft wohnt, beinahe von selbst.
Auch von der „geheimen Teufelsaustreibung“ bei der Cousine Luzia ist die Rede, nachdem Weihwasser und auch Lourdes-Wasser versagt hatten, von der Gratwanderung zwischen lässlichen Sünden und Todsünden und dem Druck, im Beichtstuhl nichts auslassen zu dürfen, stattdessen alles ganz genau erzählen zu müssen („Bei dem Vikar habe ich nie mehr gebeichtet“).
Der Krieg, so stellte Everhard Drees fest, komme kaum vor. Die Kirche sei so stark im Dorf gewesen, dass dieser außen vor geblieben sei. Detaillierten Einblick gibt Johannimloh in das Amt des „Kirchenschweizers“, das der Vater innehatte und aufgrund dessen er befand, dass sonntags „alles anders als sonst“ war. Das habe sich nicht nur auf die Kleidung bezogen. So habe „Gottesmutter, Süße“ sehr komisch aus „Papas Mund“ geklungen, und er erinnert sich, ganz verblüfft gewesen zu sein, als er den Vater zum ersten Mal in der Kirche habe singen hören. Das Singen zu Hause, das haben nämlich „erst die Enkel erfahren“, verrät der Autor.
Everhard Drees gab einen eindringlichen und berührenden Einblick „in eine andere Welt, die gar nicht so ganz lange zurückliegt, in der aber viel passiert ist“. Das Publikum im Kaminzimmer des Schultenhofes wusste die autofiktionalen Erinnerungen zu schätzen und zu genießen.